ÄRZT:IN ASSISTENZ: Wie erkennt man als Ordinationsassistent:innen im Praxisalltag erste Anzeichen dafür, dass eine Patient:in unter psychischen oder psychosozialen Problemen leidet?
Sylvia ECKER, M.A.: Gerade bei Menschen, die wir schon längere Zeit kennen, fallen uns oft subtile Veränderungen im Verhalten auf, die Hinweise auf seelische Belastungen geben können. Wenn etwa jemand, der sonst ruhig und ausgeglichen wirkt, plötzlich nervös, unruhig oder ängstlich erscheint, sollten wir hellhörig werden. Auch unerklärliche Reizbarkeit oder aggressives Verhalten sind mögliche Warnsignale. Ebenso auffällig ist, wenn sich extrovertierte Personen plötzlich zurückziehen, den Blickkontakt meiden, leise sprechen oder unsicher wirken. Solche Veränderungen im Auftreten sind oft Ausdruck innerer Anspannung. Neben der Sprache spielt auch die Körpersprache eine große Rolle. Unruhige Bewegungen, wie ständiges Wippen, Zittern, nervöses Auf- und Abgehen oder starkes Schwitzen können auf Stress oder Angst hinweisen. Auch das äußere Erscheinungsbild gibt oft Aufschluss: Wenn jemand ungepflegt wirkt oder Anzeichen von Verwahrlosung zeigt, kann das bedeuten, dass die Person sich selbst nicht mehr gut versorgen kann – häufig ausgelöst durch psychosoziale Belastungen. Besonders deutlich wird es, wenn Menschen ohne ersichtlichen Anlass in Tränen ausbrechen, sehr emotional reagieren oder im Gespräch unklare, widersprüchliche Aussagen machen. Auch Schlafstörungen, Selbstgespräche oder ein unkontrolliertes, unpassendes Lachen können Hinweise auf eine psychische Problematik sein.
Viele Menschen tun sich schwer, über ihre psychische Gesundheit zu sprechen. Wie kann man als Ordinationsassistent:in ein Gespräch sensibel und respektvoll eröffnen, ohne jemanden zu überfordern?
Im Umgang mit Patient:innen, die Anzeichen einer psychischen Belastung zeigen, ist besonderes Fingerspitzengefühl gefragt. Wichtig ist vor allem, die Privatsphäre der betroffenen Person zu respektieren und das Gespräch in einem geschützten, vertraulichen Rahmen zu führen. Der richtige Zeitpunkt und ein ruhiger Ort spielen dabei eine entscheidende Rolle. Wenn wir uns die Zeit nehmen, ruhig zuzuhören und ohne Wertung auf das Gegenüber einzugehen, kann das bereits sehr viel bewirken. Die Beobachtungen, die Anlass zur Sorge geben, sollten stets respektvoll formuliert werden – nicht belehrend oder bewertend. Solche Gespräche sind oft zeitintensiv – und genau das stellt im Praxisalltag mitunter eine Herausforderung dar. Nicht immer stehen ausreichend personelle oder zeitliche Ressourcen zur Verfügung. In solchen Fällen ist es sinnvoll, die Beobachtungen an den behandelnden Arzt oder die Ärztin weiterzugeben Auch die Patient:innen selbst können ermutigt werden, offen mit dem Arzt oder der Ärztin über ihre psychische Situation zu sprechen. Die Ärzt:innen haben die Möglichkeit, gezielt an psychosoziale Unterstützungsangebote zu verweisen. Grundsätzlich wünschen sich Menschen in psychischen Ausnahmesituationen vor allem eines: Dass ihnen jemand aufmerksam und empathisch zuhört, bevor Hilfsangebote gemacht werden.
Welche Worte oder Formulierungen sind Ihrer Erfahrung nach hilfreich – und welche sollte man eher vermeiden, um keine Stigmatisierung zu fördern?
Im Umgang mit Patient:innen in emotional belastenden Situationen ist eine wertfreie und respektvolle Kommunikation besonders wichtig. In der Aufnahme oder im Wartebereich sollte auf Bewertungen der Person oder ihrer Verfassung ebenso verzichtet werden wie auf Fragen nach konkreten Diagnosen oder medikamentöser Behandlung. Stattdessen können Beobachtungen in Form von Ich-Botschaften formuliert werden, etwa: "Ich habe den Eindruck, dass Sie sich heute nicht so gut fühlen" oder "Mir fällt auf, dass Sie heute sehr unruhig wirken". Auch Hinweise wie "Sie gehen heute viel auf und ab" können hilfreich sein, um Aufmerksamkeit zu signalisieren, ohne Druck auszuüben. Solche Äußerungen eröffnen Gesprächsangebote, ohne dass sich Betroffene dazu gedrängt fühlen müssen. Generell gilt: Niemand sollte zu einem Gespräch gedrängt werden – Zwang wirkt oft kontraproduktiv. Auch vorschnelle Deutungen wie "Vielleicht haben Sie eine Depression" oder gut gemeinte Ratschläge sollten vermieden werden. Viel hilfreicher ist es, die betroffene Person zu fragen, was ihr in der aktuellen Situation guttun könnte. Möglicherweise ist es für sie angenehmer, in einem ruhigeren Bereich zu warten oder sich vor der Praxis aufzuhalten, wenn das Wartezimmer sehr voll ist.
In solchen Momenten kann man Betroffene behutsam ermutigen, ihre Belastungen oder Symptome später im ärztlichen Gespräch anzusprechen – in einem geschützten Rahmen, der Raum für Vertrauen bietet.
Was sind konkrete Tipps, wie man als Ordinationsassistent:in mit belastenden Gesprächen umgeht, ohne selbst psychisch darunter zu leiden?
Gerade in Gesprächen mit belastenden Inhalten oder mit herausfordernden Patient:innen ist es wichtig, auch auf den eigenen Schutz zu achten. Eine klare Struktur kann helfen, die nötige professionelle Distanz zu wahren. Dafür braucht es Transparenz über den Rahmen des Gesprächs: Was ist Thema – und was nicht? Es sollte von Beginn an klar sein, in welchem Rahmen sich das Gespräch bewegt.
Wird eine Grenze überschritten oder die Situation zu belastend, darf das Gespräch – freundlich, aber bestimmt – beendet werden. Wichtig ist dabei, auf weiterführende Unterstützung durch spezialisierte Fachstellen hinzuweisen. Kommt es zu aggressiven Äußerungen, hilft es, ruhig und gefasst zu bleiben. Ein deeskalierender Umgang bedeutet auch, Verständnis für den Ärger der Gesprächspartner:in zu zeigen – allerdings ohne dabei unangemessenes Verhalten zu tolerieren. Klare Worte sind hier notwendig: Bestimmte Verhaltensweisen werden nicht akzeptiert. Auch nach dem Gespräch ist Selbstfürsorge entscheidend. Ein kurzer Austausch mit Kolleg:innen oder der behandelnden Ärzt:in kann helfen, das Erlebte besser einzuordnen – am besten noch vor dem Nachhausegehen. Wenn belastende oder konflikthafte Situationen häufiger auftreten, empfiehlt sich ein regelmäßiger Austausch im Team – etwa in Form von Intervision oder professionell begleiteter Supervision. Das stärkt langfristig die psychische Gesundheit. Grundsätzlich gilt: Ein wertschätzendes und vertrauensvolles Arbeitsklima, das den kollegialen Austausch fördert, ausreichend Personalressourcen bietet und klare Regelungen im Umgang mit schwierigen Situationen bereitstellt, trägt entscheidend zur Gesundheit der Mitarbeitenden bei.