Hausärzt:in 06/2024

Künstliche Extremitäten: Bionische Gliedmaßen wie die eigenen wahrnehmen

Im Rahmen einer Studie unter Leitung des Imperial College London und maßgeblicher Beteiligung der MedUni Wien konnte im Bereich der bionischen Rekonstruktion ein wichtiger Durchbruch erzielt werden. Die Ergebnisse zeigen, wie verbleibende natürliche Reflexe im Körper genutzt werden können, um eine zuverlässige Schnittstelle für die Steuerung bionischer Gliedmaßen zu schaffen und Bewegungen natürlicher zu gestalten.

In den vergangenen Jahren hat die bionische Rekonstruktion, der Ersatz fehlender Gliedmaßen durch künstliche, große Fortschritte erzielt. Für die Forschung stellen die intuitive Steuerung dieser Prothese sowie die Wahrnehmung der künstlichen Extremität als eigenen Körperteil allerdings weiterhin Herausforderungen dar. Die Forschungsteams um Prof. Dr. Dario Farina (Imperial College London) und Ao.Univ.-Prof. Dr. Oskar Aszmann (MedUni Wien) nutzten körpereigene Reflexmechanismen, um die intuitive Feinabstimmung der Muskelbewegungen zu verbessern.

Die Bewegungssteuerung künstlicher Gliedmaßen und das Gefühl, dass diese Prothesen zum eigenen Körper gehören, hängen stark von der sogenannten propriozeptiven Rückmeldung ab. Darunter versteht man die Wahrnehmung der Lage und Bewegung des eigenen Körpers im Raum, die durch kontinuierliche Informationen aus Muskeln, Sehnen und Gelenken an Gehirn und Rückenmark selbst bei geschlossenen Augen ermöglicht wird. "Die Eingliederung dieser Reflexmechanismen auf Ebene des Rückenmarks in die Steuerung bionischer Prothesen wurde bisher noch nie versucht", erklärt Co-Autor Oskar Aszmann (Klinisches Labor für Bionische Extremitätenrekonstruktion, Universitätsklinik für Plastische, Rekonstruktive und Ästhetische Chirurgie) die Ausgangslage der Studie.

Das Forschungsteam konnte so erstmals nachweisen, dass natürliche sensorische Informationen in die Befehle zur Steuerung bionischer Gliedmaßen integriert werden können. Diese Integration wurde durch Modulierung der Aktivität von Steuersignalen über eine Reflexschleife von Sehnenrezeptoren erreicht. So wurden konkret jene Sehnen stimuliert, die direkt Rückenmarksreflexe auslösen, sodass eine natürliche und intuitive Steuerung der Bewegungen künstlicher Extremitäten möglich wurde. An sieben Patient:innen, die nach Amputation der Unterarme bionische Gliedmaßen erhalten hatten, wurde dieses System bei der Ausübung verschiedener Alltagsaktivitäten getestet. Es führte zu einer "noch nie dagewesenen Prothesenkontrolle": "Das war das erste Mal, dass wir Patient:innen eine Eigenwahrnehmung ihrer bionische Extremität vermitteln konnten", betont Aszmann die Tragweite der Ergebnisse aus der Grundlagenforschung, die schon in naher Zukunft in die klinische Anwendung gelangen und darüber hinaus die Verschmelzung biologischer Prozesse mit technologischen Hilfsmitteln vorantreiben könnten.

Die Ergebnisse wurden in "Science Robotics" publiziert.

Alva, P. G. S., Boesendorfer, A., Aszmann, O. C., Ibáñez, J., & Farina, D. (2024). Excitation of natural spinal reflex loops in the sensory-motor control of hand prostheses. Science Robotics, 9(90). https://doi.org/10.1126/scirobotics.adl0085