HAUSÄRZT:IN: Wie erklärt sich der Zusammenhang zwischen Hörverlust und Tinnitus aus medizinischer Sicht?
Prof. SCHOBEL: Tinnitus ist in den meisten Fällen die Folge einer Störung im peripheren Hörsystem. Eine Schädigung der äußeren oder inneren Haarzellen oder der synaptischen Verbindungen am Hörnerv führen zu einer reduzierten Signalübertragung zwischen Cochlea und Gehirn. Diese periphere Deafferenzierung führt zu einer cochlearen Synaptopathie – einem versteckten Hörverlust – welche selbst bei unauffälligem Audiogramm vorliegen kann. Zwei Typen von Hörnervenfasern spielen dabei eine Rolle: die high-spontaneous-rate (high-SR)-Fasern, die leise Töne übertragen, und die low-SR-Fasern, die bei lauten Pegeln aktiv sind. Gehen erstere verloren, reagiert das Gehirn mit einem automatischen Kompensationsmechanismus: Es verstärkt die zentrale Aktivität in den betroffenen Hörbahnen, um die fehlenden akustischen Informationen auszugleichen. Dieser sogenannte "zentrale Gain" ist im Prinzip ein sinnvoller Anpassungsvorgang. Wird er jedoch übermäßig stark oder ungleichmäßig reguliert, entsteht eine Art Fehlanpassung – und genau diese übererregten Neuronen werden als Phantomton wahrgenommen: der Tinnitus. Sind die low-SR-Fasern betroffen, entsteht eine Überkompensation, die sich klinisch als Hyperakusis (krankhaft erhöhte Lärm- und Geräuschempfindlichkeit) zeigt. Die häufige Koexistenz von Hörminderung und Tinnitus ist also kein Zufall, sondern Ausdruck desselben pathophysiologischen Prozesses.