Dieser Artikel ist Teil des Gesundheitsfensters GESUNDHEITSTECHNOLOGIE
"Die richtige Behandlung mit der richtigen Dosis, zum richtigen Zeitpunkt für den richtigen Patienten bzw. die richtige Patientin.“ Mit diesem kurzen Satz lässt sich die Präzisionsmedizin – auch personalisierte Medizin genannt – vereinfacht umschreiben. Dahinter steckt jedoch viel mehr: "In der Medizin erleben wir derzeit einen Umbruch, nämlich von der molekularen zur digitalen Medizin. Zu Beginn der Medizin wurde der Körper als Ganzes gesehen, dann wurden die Organe entdeckt und in der Folge, dass sich diese aus Zellen zusammensetzen und später, dass diese wiederum aus Molekülen bestehen. Das neue Dogma lautet: ‚Der Mensch ist ein Datensatz‘", schildert Univ.-Prof. Dr. Markus Müller, Rektor der Medizinischen Universität Wien (MedUni Wien), im Interview mit gesund.at.
Viele Funktionen des Körpers, bspw. wie Gene oder Moleküle zusammenspielen, können heute digital erfasst werden – man spricht von sogenannten Omics-Technologien. Sie haben durch die Sequenzierung des humanen Genoms im letzten Jahrzehnt Auftrieb bekommen. "Die Informationen über einen Patienten und auch über einen gesunden Menschen lassen sich auf eine ‚Festplatte‘ spielen und man erhält einen Daten-Avatar des Individuums. In diesem Datensatz können Wissenschaftler spazieren gehen, verschiedene Avatare miteinander vergleichen und – etwas was man bisher nicht konnte – die sprichwörtliche Nadel im Heuhaufen finden", erläutert Prof. Müller. Damit meint der Mediziner, dass bspw. Patienten mit so genannten seltenen Erkrankungen identifiziert werden können, was mit konventionellen Diagnosemöglichkeiten nicht oder nur schwer gelingt. Auf diese Weise konnten in den letzten Jahren viele seltene Erkrankungen aufgeklärt bzw. Therapieansätze für selbige entwickelt werden. Immerhin gibt es etwa 8.000 unterschiedliche seltene Erkrankungen und circa 400.000 Menschen sind in Österreich von einer betroffen.
"Neben der Genetik haben medizinische Datensätze auch andere Anwendungsbereiche. So sollen im ‚human brain project‘ sämtliche Vorgänge im Gehirn als Datensätze erfasst werden. Diese Forschung wird nicht nur Auswirkungen auf die Medizin, etwa die Psychiatrie, haben, sondern unter anderem auch auf die Werbewissenschaften", bringt Prof. Müller ein weiteres Beispiel der vielseitigen Möglichkeiten, die die Digitalisierung eröffnet.
Im Zentrum für Präzisionsmedizin wollen wir künftig zielgerichtete Diagnosen und Therapien für eine Vielzahl an Erkrankungen erforschen. Helfen Sie uns dabei, die Zukunft der Medizin aktiv mitzugestalten.
Ein weiterer Meilenstein, der sich durch die digitale Medizin ergibt, ist, dass Menschen künftig von wohnortnaher Versorgung profitieren können. Damit ist eine echte Präventivmedizin, ergänzend zur "Reparaturmedizin" im Krankenhaus, möglich. „Schließlich werden dann ab der Geburt eines Menschen Daten gesammelt und der Gesundheitszustand wird ein Leben lang digital überwacht. Tritt ein Problem auf, so kann durch die digitale Verknüpfung via eines smarten Endgeräts schnell reagiert werden. Es ist sogar denkbar, dass wir in Zukunft keine großen Spitäler mehr benötigen werden und dass Patienten selbstbestimmter leben werden können wenn sie nicht mehr an große Institutionen gebunden sind", erläutert Prof. Müller. Gemeint ist damit, dass ein Patient bspw. einen simplen Bluttest zuhause durchführen wird können und nicht mehr zum Arzt oder in ein Labor gehen wird müssen. Auch das Wissen um den eigenen Körper und die eigene Krankheit erfährt mit der Digitalisierung einen Demokratisierungsprozess. Früher war medizinisches Wissen ein Privileg der Ärztezunft. Heute kann sich jeder Patient selbst informieren, schildert Prof. Müller und fasst zusammen: "Die krankenhauszentrierte Medizin wandelt sich zur patientenorientierten Medizin, sprich: der Patient steht im Mittelpunkt."
Weitere neue Technologien, die in Entwicklung sind und die Medizin revolutionieren, sind die robotische Chirurgie, die bionischen Technologien zum Heranzüchten von Organ(-teilen) aus Stammzellen (sog. Organoide) und auch die Genschere CRISPR-Cas9, mit der defekte Gene gezielt ausgeschaltet bzw. gesunde Gene eingebaut werden können.
Um diesem Wandel der Medizin nicht nur als Beobachter zu verfolgen sondern ihn aktiv mitzugestalten, ist Infrastruktur erforderlich. "Mit der heute verfügbaren Infrastruktur am AKH Wien ist es uns nicht möglich, in diesen zukunftsweisenden Bereichen an der Spitze mitzuwirken", erklärt Prof. Müller. Deshalb entstehen am MedUni Campus AKH neue Zentren, die sich zukunftsweisenden Forschungen widmen werden. Eines wurde von der öffentlichen Hand (Bund und Gemeinde Wien) bereits finanziert, nämlich jenes für Translationale Medizin. Patienten werden dort im Rahmen von klinischen Studien Zugang zu experimentellen, neuen Therapien erhalten – für Schwerkranke oft die einzige Möglichkeit, wenn die aktuell verfügbaren Therapien nicht wirken. "Mit den politischen Entscheidungsträgern wurde vereinbart, dass die Finanzierung der neuen Projekte nicht nur mit öffentlichen Geldern erfolgen soll, sondern die MedUni Wien mit dem Zentrum für Präzisionsmedizin (ZPM) und dem Zentrum für Technologietransfer auch einen Eigenbeitrag leisten wird. Im ZPM wollen wir künftig zielgerichtete Diagnosen und Therapien für eine Vielzahl an Erkrankungen erforschen. Im Zentrum für Technologietransfer wird unter anderem ein Austausch mit der forschenden pharmazeutischen Industrie stattfinden. Um den Bau und die erforderlichen Gerätschaften für das ZPM zu finanzieren, haben wir uns dazu entschieden, Spenden zu sammeln", berichtet Prof. Müller. Für Aufmerksamkeit sorgt hier eine auffällige Werbekampagne die aktuell läuft und mit Slogans wie "Rax – Dachstein – Asthma – Großglockner" auf die Wichtigkeit der Umsetzung dieses Projekts für Patienten aufmerksam macht. Jeder Mensch, der selbst erkrankt bzw. durch eine Erkrankung in seinem persönlichen Umfeld mitbetroffen ist, soll künftig davon profitieren können.